Fotografischer Blick? Oft ist die Rede vom sogenannten fotografischen Blick. Oder auch vom eigenen Blick. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Sehen wir nicht alle das Gleiche?
Doch, tun wir! Ganz grob zumindest. Im Grunde geht es bei dem Begriff auch nicht um das „Sehen“, sondern um das „Wahrnehmen“. Und da sind wir alle höchst verschieden. Je nachdem, welche individuelle Vorlieben wir haben, welche Prägung, nehmen wir die Dinge unterschiedlich wahr. Nehmen wir zum Beispiel einen Pferdeliebhaber. Er wird viel früher erkennen, also wahrnehmen, wenn etwas was mit dem Gang eines Pferdes nicht stimmt. Das wird der Fotograf, zumindest solange er kein Pferdefan ist, nicht erkennen.
In der Fotografie ist es ähnlich: Manche erkennen das grafische Potential architektonischer Formen, andere wiederum nicht. Dafür erkennen sie womöglich harmonische Linien im Landschaftsbild präziser. So kommt es, dass der eine als Architekturfotograf, der andere aber als Landschaftsfotograf erfolgreicher ist. Dieses Prinzip lässt sich nun auf jedes Genre der Fotografie übertragen. Sogar auf einzeln Segmente innerhalb eines Genres. So mag der eine schöne Bilder in Hochhausschluchten oder Stadtzentren produzieren können, weil er die Linien hoher Häuser geschickt zu nutzen weiß, der andere eher in Vororten, da er mit der Weite der Szenerie besser umzugehen versteht.
Mit „Blick“ ist also die Fähigkeit gemeint, bestimmte Situationen oder Dinge zu erkennen, die andere gewöhnlich übersehen. Das „Fotografische“ an dem Blick bezieht sich dabei auf Dinge, welche sich gut in einem Foto oder einer Grafik machen, wie bzw. harmonische Anordnungen von Formen und/ oder Farben wahrnehmen und entsprechend in ein schönes Bild umsetzen zu können. Dagegen schöpft sich das „Eigene“ aus der ganz bestimmten, individuellen Persönlichkeit des Fotografen. Aus seinen Vorlieben, Wünschen, Phantasien, ja selbst aus seiner körperlichen Verfassung. Nehmen wir zum Beispiel einen sehr sportlichen Fotografen, der vielleicht sogar Höhenkletterer ist. Er wird aus Perspektiven fotografieren (können), an die sich andere nicht herantrauen. Oder Taucher, die Unterwasseraufnahmen liefern. Ein guter Modefotograf muss sich mit Mode auskennen, andernfalls werden ihm die schönsten und interessantesten Modemotive abhanden kommen. Der Portraitfotograf muss anatomische Merkmale erkennen und wissen, wie man bestimmte Dinge charakterisiert oder idealisiert. Ich habe mal von einem fotografierenden Mediziner gelesen, der seinen Arztberuf an den Nagel hing, um fortan als Fotograf tätig zu sein. Das macht er offenbar recht erfolgreich. Seine medizinische Ausbildung und seine Vertrautheit mit Abläufen in einem Krankenhaus versetzen ihn nämlich in die Lage, sich z.B. mühelos in einen Klinikalltag einzufügen und mit dem Krankenhauspersonal zu reden, um zum Beispiel Aufnahmen für medizinische Publikationen, wie zum Beispiel Aufnahmen von Krankheitsbildern oder neuen medizinischen Verfahren, zu erstellen. Ihm werden mit Sicherheit mehr und bessere Bilder gelingen, als Nichtmedizinern. Dagegen hätte es „Otto-Normalfotograf“ wesentlich schwerer. Vorausgesetzt, beide verfügen über das gleiche fotografische Grundpotential.
Apropos Fachkunde: Diese ist nich nur für die Erstellung einer Fotografie, sondern auch für deren Vermarktung mehr als hilfreich. Nehmen wir zum Beispiel einen Naturfotografen, der haufenweise Aufnahmen verschiedenster Pflanzen anfertigt. Diese müssen natürlich auch alle richtig verschlagwortet werden, damit man sie im Internet, mittlerweile dem Hauptvertriebsweg, findet. Da führt die korrekte Bezeichnung, vielleicht sogar inklusive lateinischer Bezeichnung, natürlich weiter, als zum Beispiel die Beschreibung „rote Blume“.
Aber zurück zum Blick. Der „eigene fotografische Blick“ ist demzufolge die individuelle spezifische Fähigkeit des einzelnen Fotografen, spezielle Dinge wahrzunehmen. Wie bereits erwähnt, hat z.B. ein Pferdewirt die speziell Fähigkeit, das Gangbild eines Pferdes zu beurteilen, jenes eines Rindes aber wohl kaum. Dazu wäre ein Rinderzüchter gefragt.
Dieses Bild entstand mit meinem Handy. Ich nahm mir vor, auf Fahrbahnmarkierungen zu achten und fand dabei dieses Motiv. Meine erst Aufnahme aus der Serie übrigens. Gewiss, nichts Spektakuläres! Doch solche Übungen trainieren den Blick.
Auf diesem Bild, ebenfalls mit meiner Handykamera aufgenommen, kommt zur Fahrbahnmarkierung nun ein Schatten hinzu, der von einem Geländer geworfen wurde. Ein schon etwas interessanteres Bild, wie ich finde.
Sowas lässt sich natürlich auch auf andere Motive übertragen. Nicht nur Linien auf dem Asphalt haben es mir angetan. Auch solche, die anderswo entstehen, wie hier durch Schatten. Auf dem Bild ist der Schornstein des Museumsschiffes Elbe 3, ein ehemaliges Feuerschiff, zu sehen. Das Gestänge des Sonnendaches, welches am oberen Rand noch zu sehen ist, verursacht hier den grafischen Schatten.
Die Fähigkeiten, bestimmte Dinge auf eine ganz spezielle Weise zu entdecken, lässt sich trainieren. Man muss sich allerdings vornehmen, auf spezielle Sachen zu achten. Diese „speziellen Sachen“ können alles mögliche sein. Dabei ist Konzentration gefragt und man darf sich auch nicht zu viel auf einmal vornehmen. Es bringt nichts, sich allgemein vorzunehmen, auf Formen zu achten. Die gibt es schließlich überall in unterschiedlicher Art. Dreiecke, Kreise, Rechtecke usw., überall, wo man hinschaut. Wer alles will, will nichts! So einfach ist das.
Konzentriert man sich allerdings zum Beispiel nur auf Dreiecke und die Frage, wie man sie wirksam in eine Bildidee umsetzt, klingt das zunächst zwar etwas komplizierter, führt aber dazu, dass man irgendwann weiß, wo man sie typischer Weise vorfindet oder selber kreiert, und in einem Foto umsetzt. Das dauert zwar eine gewisse Zeit und es bedarf Übung, aber dieses Vorgehen ist effektiv. Es gibt Menschen, denen sagt man nach, einen guten Blick für etwas zu haben. Das mag bei dem ein oder anderen vielleicht angeboren sein. Bei vielen aber antrainiert.
Im Beitragsbild ist der Kirchturm von Cantalejo in Spanien, nördlich von Segovia und Madrid, zu sehen. Zusammen mit der Kirchenmauer bilden die Linien von Turm und Mauer aus dieser Perspektive ein spitzes Dreieck, welches Dynamik vermittelt. Im Gegensatz dazu stehen die Kreise der Lampe, welche er Ruhe uns Bild bringen und daher mit dem Dreieck von Mauer und Turm in einem Spannungsverhältnis stehen. Bei jenem Bild sind die Formen nicht durch Schatten, sondern durch Umrisse von Bauwerken entstanden. Solche Gelegenheiten zu erkennen, erfordert Wachsamkeit und Übung.