Ich hatte jetzt zum zweiten Mal das Vergnügen, mit zwei meiner Onkels nach Polen zu reisen. Und zwar nach Pommern, welches vor dem 2. Weltkrieg zum Deutschen Reich gehörte, und wo die Familie meiner Mutter her stammt. Nach dem Krieg wurden sie von dort vertrieben und flüchtete nach Hamburg, wo ich und später auch meine Kinder dann geboren wurden.
Meine Mutter stammt aus Seebuckow, einem kleinen Dorf an der Ostseeküste in Pommern. Als ich noch ein kleiner Junge war, in den 60iger Jahren, gab es noch den eisernen Vorhang, jenen Zaun, der die Welt in zwei Teile spaltete. In den sogenannten „Westblock“ und den sogenannten „Ostblock“. Ich war natürlich froh, dass ich in den „Westen“ hineingeboren wurde, schließlich hatte wir alles, was man Freiheit nennt, während im Ostblock Unfreiheit und Armut herrschte. Ich erinnere, wie mein Großvater in seinem Wohnzimmer in Hamburg saß, gebeugt über einen alten Atlas, und mir dort im Atlas immer und immer wieder seine Heimat zeigte. Begleitet von den Worten: „Alles weg, alles verloren! Tja, so ist das nun mal!“
Für mich waren die Gebiete, auf die er damals zeigte, wie aus einer anderen Welt. Unerreichbar! Schließlich gab es diesen Zaun, der jeden aus dem Westen, aber auch wirklich fast jeden, daran hinderte, dort hin zu fahren. Visa wurden zu jener Zeit einfach nicht erteilt. Zu groß war damals die Furcht der kommunistischen Volksrepublik Polen, dass ehemalige Bewohner der Gegend, also die Vertriebenen, dort Unruhe stiften könnten.
Und ich erinnere natürlich auch die diversen Gespräche meiner Großeltern, Onkels, Tanten und deren Verwandten und Bekannten, die zum großen Teil ebenfalls aus Pommern stammen. Wie sie erzählten von Köstrin, der nahen Stadt, von Neuwasser und Rügenwalde, zwei weiteren Orten. Und natürlich von dem Wald, von dem Seebuckow umgeben war. Dem großen schönen Wald, der Seebuckow umgab. Ebenso den Mühlenbach, der durch das Dorf floss und den sie als Kinder auf dem Weg zur Schule, in der übrigens mehrere Klassen zusammen in einem Raum saßen, immer zu queren hatten. Und wie streng es damals in der Schule und im Konfirmandenunterricht zu ging.
Ja, die Kirche! Hatte sie doch einen besonderen Platz in Hamburg gefunden: Als Fotografie hing sie an der Wand im Wohnzimmer meiner Großeltern.
Wie gesagt: Damals eine Welt, die es für mich nur in Erzählungen gab, aber nicht real. Unerreichbar! Einfach nicht existent!
Als der eiserne Vorhang fiel, Anfang der 90iger Jahre, hatte ich bereits mein eigenes Leben, meine eigene Familie. Ich hatte einfach kein Verlangen, in die Gegend zu fahren, von der zuvor oft erzählt wurde. In meinem Bewusstsein war es nun mal etwas, was es nicht (mehr) gab, ein erledigter, ausradierter Teil der Geschichte. Und die Erzählungen darüber waren ja mittlerweile auch schon Jahre her.
Vor zwei Jahren fügten sich die Dinge glücklicher Weise dann so, dass ich erstmal mit zwei meiner Onkels und meiner Frau nach Pommern reiste. Wir wohnten in Krag (deutsch: Krangen), einem wirklich ganz kleinen Dorf „ab vom Schuss“, im Schlosshotel Podewils. Es war unglaublich! Das Hotel eine Wucht! Die Lage am See? Ein Märchen! Die Küche? Ich habe selten so gut gegessen!
Nach Seebuckow mussten wir allerdings eine gute dreiviertel Stunde fahren. Aber was soll’s?
Als wir schließlich dort ankamen, war ich überwältigt. Nicht von der Schönheit des Ortes, nein, dass sicher nicht. Aber von der Tatsache, dass ich nun plötzlich auf jenen Wegen stand, von denen ich als kleiner Junge immer gehört hatte. Vor jenem Bach, vor jener Schule und sogar vor jenem Baum, der den Beginn des Waldes markiert! Vor der Kirche, die ich als Fotografie aus dem Wohnzimmer meiner Großeltern kannte! Die Wirtschaft gegenüber der Kirche, der „Krug“, wo früher die Pferde abgespannt wurden, und wo nach dem Gottesdienst noch „ein Kleiner genommen“ wurde, all das wovon ich als kleiner Junge gehört hatte, war nun vor mir!
Und wir sprachen sogar mit einer Bewohnerin des Ortes, die meine Onkels noch von früher kannten. Die damals blieb und ihr Leben weiterhin im Ort verbrachte.
Ich habe natürlich viel fotografiert. Ganz klar.
Auf der zweiten Reise, die vor gut einer Woche endete, war mein jüngster Sohn mit. Wir wohnten wieder in Krag, jedoch nicht im Schlosshotel (es war ausgebucht), sondern in einem nahen Gästehaus, welches sich ebenfalls als gute Unterkunft herausstellte. Wir besuchten wieder Seebuckow, Rügenwalde und Danzig, die Stadt in der der Mauerfall eingeläutet wurde. Dort wo Anfang der 80iger Jahre die Gewerkschaft Solidarnosc von dem Werftarbeiter und späteren Staatspräsidenten Lech Walesa gegründet wurde, die die Proteste in Polen initiierten, welche später auch auf die damalige DDR übersprangen und 9 Jahre später zum Mauerfall führten.