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Erwartungen
Jeder hat unterschiedliche Erwartungen an ein Foto. Viele, vielleicht sogar eine Mehrheit, erwartet im Gegensatz zur Malerei eine realistische Abbildung der Realität. Zu viel Retusche, oder sagen wir besser Bildmanipulation, stört sie, und manche betrachten dies sogar als Frefel, als Abkehr von der Fotografie. Ist so eine Sichtweise berechtigt?
Wie sieht es mit folgendem Bild aus? Es ist in Hamburg aufgenommen worden und zeigt die bekannten Mundsburg-Hochhäuser. Zeigt es die Realität? Und wenn ja, welche? Das Bild ist stark bearbeitet. Oder besser gesagt, die Bilder, denn es handelt sich um eine aus mehreren Bildern zusammengesetzte Montage, wobei ich manche Bilder im Hochformat, andere im Querformat aufgenommen habe. Den gezeigten Bildwinkel hätte ich mit meiner Kamera nämlich so gar nicht hinbekommen. Und in der Realität fehlten die Grautöne. Alles war bunt!
Und nun?

Realitäten in der Fotografie
Wieviel Bildmanipulation ist erlaubt?
„So war das aber nicht.“
Öfters habe ich diesen Satz genau so gehört. Von meiner Mutter, meinem Onkel oder auch meiner jüngeren Tochter. Sie scheinen Fotografien zu erwarten, die zeigen, wie es „halt so war.“
Eine solche Haltung ist selbstverständlich zulässig. Sie verkennt meines Erachtens aber, dass das, wie es war, nicht alleine das Ergebnis der optischen Ereignisse vor der Kameralinse ist, sondern sich dieser Eindruck aus diversen Wahrnehmungen und Gefühlen formt. Und zwar durch Gefühle und Wahrnehmungen, die ein späterer Betrachter des Bildes nicht in der Form haben kann, wie der Fotograf beim Betätigen des Auslösers.
Wie war es denn? Und was war wie? Und warum sollte ein Foto zeigen, was wie war?
Kein Foto zeigt Realitäten. Das ist ein Irrtum! Bereits der Aufnahmeprozess bzw. die dafür notwendige Optik „verfälscht“ die Realität, wenn wir es genau nehmen wollen. Es verzerrt, da es einen dreidimensionalen Raum auf ein zweidimensionales Medium bringt. Das führt zu Größenänderungen. Wir alle kennen das von einer Weltkarte und staunen gelegentlich, wie groß Grönland doch im Vergleich zu Afrika sein soll. In Wahrheit ist es viel kleiner, nicht größer, aber das zweidimensionale Medium Landkarte kann nun mal die Realität einer Kugel nicht abbilden. Das geht nicht.
Ebenso führt der Entwicklungsprozess zwangsläufig zu Veränderungen dessen, was sich real vor der Kamera abspielte. Apropos Entwicklung: Die erfolgte früher natürlich ausschließlich in schwarzweiß. Nichts war so, wie es anschließend in schwarzweiß gezeigt wurde. Gar nichts! Es war bunt, nicht in Grautönen.
Auch der Einsatz eines Blitzgerätes ist natürlich eine Manipulation der Realität. Es verändert die Lichtverhältnisse massiv. Vom Einsatz von Fotofiltern mal ganz zu schweigen.
Objektivität, wo sie hingehört
Es gibt Disziplinen in der Fotografie, die erfordern natürlich ein Höchstmaß an Objektivität. Da erwartet man diese. Bei Polizeifotografen bzw. deren Fotos zum Beispiel. Es liegt auf der Hand, dass bei dem „Beweismittel Foto“ keine umfangreichen Bildmanipulationen erfolgen dürfen, also Tatwerkzeuge oder Spuren hinein- oder rausretuschiert werden dürfen. Manipulationen am Bild sind, wenn überhaupt, lediglich in Bezug auf Helligkeit und Kontrast zulässig. Das sind aber eigentlich keine „Manipulationen“, sondern verfahrensbedingte Notwendigkeiten, um ein Bild überhaupt erst entstehen lassen zu können. Jedes Bild muss entwickelt werden. Egal ob analoger Film oder als digitales Pendant. Denn irgendwer muss dem Film oder dem Bildsensor ja letztlich „sagen“ oder „beibringen“, wie er welche Lichtimpulse auf dem Bild umzusetzen hat. Anders geht es nicht! Andernfalls würde nämlich kein Bild entstehen!
Das Gleiche (was Bildmanipulationen betrifft) gilt übrigens für die gesamte dokumentarische Fotografie, also für Fotoreporter.
Aber auch für das Genre Streetfotografie. Hier liegt die Kunst ja gerade darin, einen flüchtigen, realen Moment des öffentlichen Lebens so einzufangen, dass es ein ansprechendes, aussagekräftiges Bild ergibt. Sinn der Streetfotografie ist die Dokumentation des öffentlichen Lebens. Somit gelten auch die für Dokumentationen gültigen Regeln, was die Authentizität betrifft. Natürlich ließen sich solche Szenen bzw. solche Bilder auch kontrolliert erstellen, etwa mit Fotomodellen oder zusammengebaut am Rechner. Vielleicht sogar mit KI. Natürlich kann man sowas machen und dies wäre auch nicht anrüchig. Dann sollte man es aber nicht als „Streetfotografie“ bezeichnen, denn diese Bezeichnung suggeriert nun mal Authentizität. Sowas wäre dann „Fake“. Nicht das Bild an sich, jedoch das Bild in Verbindung mit dem falschen Label. Das wäre das Gleiche, als wenn sich ein Brustschwimmer mit einer guten 100-Meter-Zeit rühmen würde, aber verschweigt, dass er diese gute Zeit in Wahrheit mit Kraulen erreichte. Beide Schwimmstile sind zulässig, nur die Einordnung in diesem Falle dann nicht.
Andere Foto-Genres erlauben mehr. Fineart sogar alles. Man könnte es auch als den „Freistil der Fotografie“ bezeichnen.
Objektivität, wo sie hindert
Als meine Tochter „so war das aber nicht“ zu mir sagte, hatte ich ihr ein Portrait von ihr gezeigt, welches ich zuvor in den Vierlanden aufgenommen hatte, ihr nun aber vor die Elbphilharmonie montiert präsentierte (die Ursprungsversion auf der Wiese hatte sie natürlich längst). Ich hatte zu Versuchszwecken einfach die Location ausgetauscht, lediglich eine kleine Bildmanipulation vorgenommen: Aus Landschaft wurde moderne Architektur. Was das Portrait an sich betraf, hatte ich natürlich kein Veränderungen vorgenommen. Veränderungen am Portrait (zumindest solche, die mehr als „Schminken“ sind) mag ich nicht. Denn dann wäre es kein Portrait mehr, sondern Fineart, Phantasy oder was auch immer. Apropos Schminken: Auch das verändert natürlich Realitäten, nicht nur im Foto!
Meine Nachfrage quittierte sie mir mit: „Ich war ja nicht da.“
Ach so ist das, sie war nicht da…
Sollen Fotos etwa zeigen, wo man war?
Nun war meine Tochter also nicht da gewesen. Zumindest nicht, als ich sie fotografierte, das stimmt. Aber war sie als Hamburgerin wirklich noch nie da? Und falls nicht: Wäre das schlimm? Die Montage mit der Elbphilharmonie ist ein arrangiertes Bild, etwas gezielt Zusammengestelltes. Das war das Originalbild aber auch. Meine Tochter wäre nicht auf der Wiese gewesen, hätte ich diese nicht ausgesucht, um sie dort zu fotografieren. Sie hätte in dem Moment irgendwas anderes an einem anderen Ort gemacht.
Aber so funktioniert Fotografie nun mal! Zumindest alles außerhalb von Schnappschüssen, also Fotografien, die Szenen zeigen, ohne das der Fotograf in irgendeiner Weise Einfluss auf deren Zustandekommen nahm. Eigentlich nicht mal durch seine Anwesenheit. Denn wenn das fotografierte Subjekt ihn bemerkt und sich nach ihm umdreht, also in die Kamera schaut, geht es bereits mit manipulierten Realitäten los. Wobei natürlich der Umstand, dass ein Fotograf da steht, nach dem man sich umdreht und in dessen Kamera man schaut, selbstverständlich auch „Realität“ ist.
„Bitte Lächeln“ verändert Realitäten
20 Menschen würden auch niemals zufällig zusammenkommen, um sich in Dreierreihen hintereinander aufzustellen und in eine Richtung zu lächeln. Warum sollten sie das auch machen? Es ist eine arrangierte Realität für ein Gruppenportrait! Was ist schlimm daran? Hätte der Fotograf nicht irgendwie dirigiert, würde keine Menschengruppe zufällig so beieinander stehen, wie regelmäßig auf Bildern zu sehen. Das passiert ausschließlich fürs Foto
Also: Was soll der Satz „So war das aber nicht!“ aussagen?
Und was wäre erst mit der Videografie? Glaubt etwa jemand „Herr der Ringe“ zeigt Realitäten? Alles ist Illusion, was dort gezeigt wird. Ebenso wie in der Rocky-Horror-Picture-Show!
Das Gleiche gilt aber auch für die Fotografie. Was sollte daran anders sein?


Dem Bild habe ich einen Wetplatelook verpasst. Na und? Dass das Schiff auf der Wiese steht, ist allerdings keine Bildmanipultaion, sondern Realität!